Die Rallye des Einkaufs durch drei Jahrzehnte
„Im Einkauf werden heutzutage die Karrieren gemacht. Tim Cook, ehemals CPO, ist immerhin Apple-CEO. Kein Einzelfall.“ Das zumindest meint Marc Ennemann, Head of Alliance and Center of Excellence Technology bei KPMG. Seine Begründung: Im Einkauf finde sich alles, was Erfolg ausmache: Zahlenverständnis, End-to-End-Verständnis von Business sowie das Bewusstsein für Versorgungssicherheit und Abhängigkeiten in globalen Netzwerken. Interessant ist aber vor allem, dass Cook mal wieder als Rollenmodell herangezogen wird. Mit Verlaub: In seinem offiziellen Profil bei Apple tauchen die drei Buchstaben „CPO“ jedenfalls nicht auf. Bevor der heute 63-Jährige aus Alabama 1998 zu Apple kam (er sollte im Auftrag von Steve Jobs zunächst die Logistik der damals kriselnden Firma in den Griff bekommen), war er bei Compaq als Vice President Corporate Materials verantwortlich für Beschaffung und Verwaltung des Produktbestands – und das allerdings für gerade mal sechs Monate.
Bei der leidigen „Selbstbild-Fremdbild“-Debatte helfen weder Überhöhung noch Understatement weiter. Es gilt vielmehr, wahre „Role Models“ unermüdlich in den Fokus der (Fach-)Öffentlichkeit zu rücken. Experten, die – über Jahre hinweg – die Organisation innoviert und signifikante Wertbeiträge generiert haben. Und die später, nach Aufstieg in die Geschäftsleitung, die erfolgskritischen Aufgaben der Einkaufsfunktion auch entsprechend fördern. Beispiele: Claudia Viohl und Marcell Vollmer.
Role Model: Claudia Viohl
Der gebürtigen Bremerin wurden 2001 bei E.ON Ruhrgas zahlreiche strategische Projektleitungsaufgaben übertragen. Von 2008 bis 2012 leitete sie das Vorstandsbüro bei E.ON SE, ehe sie das Center of Competence Governance & Performance, Corporate Procurement verantwortete. Jobtitle 2016: „Senior Vice President Corporate Procurement & Real Estate Management“. Unter dem Motto „from savings to value“ nahm der Einkauf Treiber und Bedarfe ins Visier. „Transformation ist kein Schmusekurs“, betonte Claudia Viohl im Interview für die BIP-Ausgabe 5/2017.
Im Vordergrund stehe bei ihr das Zusammenwachsen von Teams. Werte, Respekt und systematische Unterstützung seien wichtig. „Die Leute dürfen nicht transformationsmüde werden. Ich mache Kolleginnen und Kollegen zum Teil der Lösung, nicht zum Teil des Problems.“ Im Einkauf arbeite man mit Fakten und sei mitten im Geschäft. „Aber nur wer Konflikte aushält, ist im Einkauf richtig.“ Claudia Viohl hat das selbst eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Intern war längst klar, dass die Diplomökonomin für einen weiteren Karriereschritt in Frage kommt. 2021 war es so weit: Zum 1. Mai übernahm sie in Tschechien den Vorsitz der Geschäftsführung der E.ON Česká republika mit 3.200 Mitarbeitern in den Geschäftsbereichen Energienetze und Kundenlösungen. Das Forbes-Magazin (CZ) bezeichnet sie – eine der ranghöchsten Frauen der tschechischen Wirtschaft – als „Power Lady“.
Viohls (Rück-)Blick auf den Einkauf. „Der Einkauf mit seinen Möglichkeiten wird in vielen Unternehmen nach wie vor unterschätzt. Dieser Bereich sollte eng mit den Geschäftsbereichen auf Augenhöhe zusammenarbeiten und dabei nicht nur die Preise, sondern auch die Spezifikationen sowie die Art und Weise, wie wir unser Geschäft betreiben, optimieren.“ Was rät sie CPOs, um die Organisation voranzutreiben – und damit auch die eigene Karriere? „Definiert Euren Verantwortungsbereich nicht zu eng. Taucht tief ins Geschäft ein. Versteht die Geschäftsdynamik, das Marktumfeld und die wesentlichen Erfolgsfaktoren und Risiken.“ Und: „Man kann noch viel mehr von Lieferanten beziehungsweise Partnern lernen und ihre Innovationspotenziale nutzen.“
Role Model: Marcell Vollmer
Der 54-Jährige kam schon früh mit Einkäufern in Kontakt, als er sich in Hamburg während des Studiums im Im- und Export verdingte. „Richtig professionell“ wurde es ab 2004 mit dem Aufbau des P2P-Prozesses bei SAP (neu: Shared Services). 2011 wurde er zum CPO sowie Senior Vice President Global Procurement Organization berufen.
Den bis dato eher operativ und stark regional geprägten Einkauf galt es strategisch aufzustellen und Systeme, Prozesse und Innovation voranzutreiben. Nicht minder wichtig: „Mitarbeiter entsprechend zu motivieren, dafür wurde viel investiert“, betont Marcell Vollmer rückblickend. Seine Karriereschritte nach dem Einkauf: Chief Operation Officer und Chief Digital Officer bei SAP, dann bei Celonis Chief Information Officer. Nach einem Abstecher zu Boston Consulting kam der Ruf als CEO nach Ulm zu Prospitalia, Einkaufsdienstleister für Kliniken, Klinikapotheken, Pflegeeinrichtungen. Derzeit ist der Diplom-Kaufmann unter anderem als Start-up-Investor, Senior Advisor und Keynote-Speaker aktiv.
„Der Einkauf wird von sehr vielen unterschätzt“, sagt auch Marcell Vollmer. „Die Funktion bietet spannende Herausforderungen und ist ein Karrieresprungbrett durch den breiten Überblick, den man gewinnt“, erklärte er in der BIP-Ausgabe 3/2014. Und wie beschreibt er aktuell die Phasen des Einkaufs gestern, heute und morgen?
1 = von 1990 bis 2000 traditioneller Einkauf mit stärkerer Ausrichtung auf strategische Themen, später auf E-Procurement und Automatisierung;
2 = in den 2000er-Jahren stärkerer Fokus auf strategischen Einkauf und Supplier Management;
3 = bis in die 2010er-Jahre Globalisierung und Risikomanagement;
4 = seit den 2010er-Jahren digitale Transformation, Nachhaltigkeit (CSR) und Advanced Analytics;
5 = von 2010 bis 2020 Collaborative Procurement (mit Innovationspartnerschaften etc.) und Agile Procurement;
6 = von 2020 bis heute Post-Pandemic und Resilient Procurement;
7 = bis 2030 Autonomous und Intelligent Procurement mit KI, Autonomous Decision Making, Smart Contracts, Circular Procurement sowie Human-Centric, Inclusive Procurement.
„Diese Entwicklungen spiegeln umfassendere Veränderungen in Technologie, Globalisierung und Geschäftsstrategie wider, mit Fokus auf Effizienz, Wertschöpfung, Risikomanagement“, so Vollmer.
Jürgen Marquard, Vorstandsvorsitzender des BME e.V. von 2000 bis 2013, merkt an: „Es gibt nun mal Unternehmen – etwa im Bereich Finanzdienstleistungen – in denen Einkauf traditionell ausschließlich für die Deckung indirekter Bedarfe zuständig ist. Auch daraus ergeben sich hinsichtlich seiner Relevanz auf das Unternehmensergebnis signifikante Unterschiede, die sich auf die Positionierung des CPO auswirken. In jedem Fall aber kommt es auf ein möglichst kongeniales Zusammenspiel von CPO und CFO an.“ Dieses Thema wurde bereits in der BIP-Ausgabe 5/2011 in der Titelstory diskutiert. Marquard betonte seinerzeit: „Die erfolgreichen Unternehmen haben erkannt, dass Einkauf und Finanzen stärker zusammenarbeiten und aus gewohnten Denkmustern ausbrechen müssen, wenn sie in dieser neuen Normalität erfolgreich bestehen wollen.“
Jürgen Marquard war seit 1989 in leitenden Posi-tionen im Bereich Materialwirtschaft/Einkauf tätig, unter anderem bei Mannesmann Anlagenbau, Fichtel & Sachs, Mannesmann Rexroth. Ab 2001 führte er die Zentral-abteilung Strategischer Einkauf bei Bosch Rexroth in Lohr/Main. Heute ist er Partner beim Personaldienstleister TALENT-net (Köln).
Die „Delta-Droge“
Die Leistung des Einkaufs wird aus Marquards Sicht heute vielfach immer noch einseitig auf Beiträge zur Kostensenkung reduziert („Delta-Droge“). Die gesamthafte Bewertung unter dem 365-Grad-Aspekt fehle oft. Zu fragen sei vielmehr: „Was leistet der Einkauf als Innovations-Scout im Rahmen der Entwicklung neuer Erzeugnisse und Lieferanten? Wie ist der Support des Einkaufs bei Offshoring-Aktivitäten zu bewerten, etwa beim Aufbau neuer Lieferanten an Fertigungsstandorten in Emerging Markets? Wie verhält es sich mit der Entwicklung der Qualitätskennzahlen im Bereich Zulieferung? Und wie fit ist die Einkaufsorganisation für die neue Normalität in Sachen Agilität, Prozesse, Tools, Smart Analytics etc.?“
Die Lehre der Lehre. „Mit Savings verhalte es sich ähnlich wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, meint Lehrstuhlinhaber Christoph Bode. Jeder wisse eigentlich, dass Einsparungen – gemessen gegen irgendeinen Vergleichsbenchmark – in den meisten Fällen keine adäquate Kennzahl seien, „aber trotzdem bekommt man es nicht tot“. Den Stiftungslehrstuhl für Procurement an der Universität Mannheim hat der BME 2014 im Verbund mit Unternehmen gegründet – dessen Leitung wurde Christoph Bode übertragen.
„Erfolgsgeschichten und spannende Karrierepfade in und durch die Einkaufsfunktion müssen noch besser an die Talente von morgen kommuniziert werden – und da spielten Hochschulen und Universitäten die zentrale Rolle.“ In der Lehre trage man den Praxisanforderungen Rechnung, am deutlichsten bei den Themen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. „Man kann heute keinen Supply Chain-/Procurement-Kurs mehr anbieten, ohne Nachhaltigkeitsprobleme und moderne Data-/Business-Analytics-Ansätze anzusprechen“, erklärt Christoph Bode, der auch dem Wissenschaftlichen Beirat des BME angehört.
Die vier großen D’s
Wenn es die beträchtlichen Herausforderungen zu benennen gilt, nennt BME-Hauptgeschäftsführerin Helena Melnikov – neben bürokratischen Hürden – die „vier großen D‘s“: Dekarbonisierung, Digitalisierung, Demografie, (De-)Globalisierung. „Daraus leiten wir für die nächsten Jahre strategische Ziele ab. Die Dauerbrenner Digitalisierung, Automatisierung, KI, Lösungen sowie Chancen und Risiken werden tiefgehend u.a. auf den Flaggschiffen BME-Symposium Einkauf und Logistik und BME-eLÖSUNGSTAGE diskutiert. Der Einkäuferkongress erlebt in diesem Jahr bereits seine 59. Auflage. Und auch das ‚e-Fachevent‘ hat sich als Dauerbrenner erwiesen. Die Szene ist mit dem Verband gewachsen und der Verband mit ihr.“
„e-Community“: In Nürnberg fing alles an. Die Initialzündung im Rückblick: Im Mai 2001 veranstaltete die Messe Nürnberg erstmals die e_procure (2005 um den Zusatz „supply“ im Titel erweitert). Bis zu 4.000 Besucher aus Einkauf, IT und Logistik waren fortan jährlich vor Ort. 2005 verwies der Veranstalter auf 191 Aussteller, darunter Ariba, Corporate Express, Heiler, Onventis, RS Components, Schweitzer, Poet, SAP, Siemens. Dann kam die Sättigung, 2011 war Schluss. Was den Nürnbergern wirtschaftlich keinen Spaß mehr machte, griff der damalige BME-Hauptgeschäftsführer Holger Hildebrandt auf. Der Verband hatte zeitweise während der „e_procure“ den parallelen Fachkongress mit bis zu 450 Teilnehmern ausgerichtet und wollte die „e-Community“ nun selbst neu motivieren und enger an sich binden. Das gelang Hildebrandt mit dem neuen Format „BME-eLÖSUNGSTAGE“. Der Fortgang ist bekannt: Im Mai 2025 steigt die 16. Auflage im Düsseldorfer Areal Böhler.
Ausblick: Sechs neue Technologien
Reinald Schneller war unter anderem bei HP, Netfira, crossinx und Etiscan in Führungs- und Geschäftsleitungsverantwortung und ist nun als CPO-Moderator aktiv. Der Software-Experte benennt für BIP die (zukünftig) wesentlichen Technologien im Einkauf:
1 = Künstliche Intelligenz und Machine Learning (ML) werden bei der Analyse großer Datenmengen, bei Mustererkennung, Vorhersagen, Nachfrageprognose, Preisoptimierung und Risikoerkennung helfen. Chatbots und virtuelle Assistenten unterstützen die Kommunikation mit Lieferanten und internen Stakeholdern.
2 = Blockchain wird die unveränderliche und sichere Aufzeichnung von Transaktionen ermöglichen, was Betrug und Fehler minimiert. Smart Contracts auf Blockchain-Basis können automa-tisch Verträge ausführen und Zahlungen auslösen.
3 = Internet der Dinge (IoT) wird über Sensoren und vernetzte Geräte Echtzeitüberwachung und -steuerung von Lieferketten ermöglichen, was beispielsweise in Lagerhaltung und Transportmanage-ment von Vorteil ist.
4 = Robotic Process Automation (RPA) wird repetitive und regelbasierte Aufgaben automatisieren und damit die Effizienz erhöhen und die Fehlerquote reduzieren, etwa bei automatischer Verarbeitung von Bestellungen und Rechnungen.
5 = Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) werden insbesondere im Bereich Lieferantenbewertung und Schulung sowie Risikomanagement Einzug halten; damit lassen sich auch Lagerbestände überprüfen oder Maschinen inspizieren, um daraus automatisierte Beschaffungsvorgänge auszulösen.
6 = Advanced Analytics wird tiefere Einblicke und bessere Entscheidungsgrundlagen bieten. Predictive Analytics und Prescriptive Analytics können Trends herausarbeiten und optimale Handlungsoptionen empfehlen.
Reduzierung von Abhängigkeiten
Software in Sachen Supply Chain Risk sollte inzwischen jeder Einkaufsleiter auf der Agenda haben. Knifflig wird es vor allem in Sachen China. Diese komplexe Problematik ist mittlerweile von „De-Risking“ geprägt. Hier ist der Einkauf auch als Mahner gefragt. Denn so manches Unternehmen hat seine Hausaufgaben noch immer nicht verstanden. Beispiele nennt Bernhard Weber, der seit 1994 Leitungsfunktionen in China innehatte (bis 2018 Chief Administration Officer bei BSH für Greater China): „Man macht handwerkliche Fehler, etwa in Verhandlungen. Hinzu kommen kulturelle Ignoranz und falsche Leute vor Ort. Nach wie vor gibt es nicht genug Verständnis für den chinesischen Markt und dessen Dynamik. Es ist wichtig, vor Ort gute Leute zu haben, also gute lokale Mitarbeiter und zu-dem erfahrene Ausländer, die als Bindeglied zwischen dem deutschen Stammhaus und der chinesischen Seite agieren können. Idealerweise chinesisch-sprachige Europäer, die in meinem Einkauf drei, vier Jahre das Handwerk gelernt haben und mit Sachwissen und Verständnis unserer Firmenkultur in China für uns tätig werden.“
Einkauf bei M&A. „Man braucht Mitarbeiter, die beide Kulturen kennen“, sagt auch Jin Shen, der 1988 an die TU Berlin kam. Ein Grund sei das konträre Verständnis von Geschwindigkeit. Ein chinesischer Kunde erwarte umgehende Reaktionen. Shen war später u.a. General Manager bei SUSPA (Nanjing). Seit 2021 ist er Partner bei Andlinger & Company im Sektor M&A und Aufbau mittelständischer Produktionsunternehmen in DACH-Ländern.
„Bei Bewertung und Akquise schaute ich auf die Persönlichkeit eines CEO und den Mitgliedern des Managementteams, auf Prozesse und geschlossene Verträge, speziell zu Rohmaterialien. Wo bestehen Möglichkeiten? „Einkauf ist öfter einer der Optimierungsbereiche mit großem Potenzial.“ Es müsse viel mit dem Lieferanten kommuniziert werden. Jin Shen geht auch in die Produktion, erklärt Anforderungen, spricht über pragmatische technische Lösungen. „Initiativen von Lieferanten sind zu honorieren. Es geht immer auch um Vertrauen und Respekt.“
BME und China
Abschließender Rückblick: Der BME kann auch in diesem Feld eine bemerkenswerte Historie aufweisen. 2005 gab der stellvertretende chinesische Außenminister Wei Jianguo anlässlich seines Besuchs in Frankfurt dem Verband To-dos mit auf den Weg. Ein paar Monate später richtete man gemeinsam die bis dato vor sich hin dümpelnde reverse International Sourcing Fair in Shanghai neu aus – mit großer Resonanz. Viele deutsche Einkäufer fanden neue Lieferanten. Seit Gründung des Verbandes im Jahre 1954 hat der BME seinen Support um zahlreiche Formate für diverse Länder und Regionen rund um den Globus erweitert. Die Abteilung BME International ist heute für Mitglieder und Partner zentraler Dreh- und Angelpunkt für globale Märkte, internationale Netzwerke und Institutionen.
Autorin: Sabine Ursel, Fachjournalistin (von 2001 bis 2014 beim BME verantwortlich für Kommunikation und Sonderprojekte - u.a. China-Business)
Weitere Informationen zum BME-Fachmagazin BIP - Best in Procurement finden Sie hier.